Zurück zur Sozialdemokratie?

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Angesichts des Niedergangs der Partei DIE LINKE stellt sich die Frage, ob eine solche Partei heute noch gebraucht wird. Sind die Unterschiede zwischen Linkspartei und SPD weiterhin so groß, dass es zweier linker Parteien bedarf?  Oder ist es jetzt nicht an der Zeit, die historische Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, sich Klarheit darüber zu verschaffen wie es zu dieser Spaltung kam, denn erst vor diesem Hintergrund lässt sich beurteilen, ob die Gründe dafür heute noch aktuell sind.

Die Spaltung der Arbeiterbewegung geht auf die politischen Umbrüche während und nach dem ersten Weltkrieg zurück. 1916 verließen Kriegsgegner die SPD und gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Seit der Oktoberrevolution und der Bildung der III. - kommunistischen - Internationale im Jahr 1919 existiert der Gegensatz von Sozialdemokratie und Kommunismus.

Die Burgfriedenspolitik der internationalen Sozialdemokratie als Ursache der Spaltung

Die Bruchlinie zwischen den Lagern aber war nicht von der Fragestellung Reform oder Revolution bestimmt. Nach Domenico Losurdo ist dies „eine künstliche Darstellung, die nicht dadurch glaubhafter wird, dass sie oft unter entgegengesetzter Wertung von beiden Antagonisten geteilt wurde“. [1] Tatsächlich war es die Reaktion der Führungen der europäischen Sozialdemokratie auf den von den imperialistischen Mächten ausgelösten ersten Weltkrieg, die zur Spaltung führte. Unter der Parole des „Burgfriedens“ billigten, ja unterstützten diese aktiv das Massenschlachten – ob in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich oder Italien. Dagegen stellten sich überall innerparteiliche Oppositionsbewegungen, es kam zu Parteispaltungen. Aus der Sozialdemokratie heraus bildeten sich neue Parteien: Pazifistische, linkssozialistische und kommunistische.

Zur ersten Zusammenkunft oppositioneller Kräfte kam es in der neutralen Schweiz. Im September 1915 trafen sich in dem kleinen Ort Zimmerwald 38 Delegierte aus zwölf Ländern und Regionen.  Das von ihnen verabschiedete Manifest enthielt eine schonungslose Abrechnung mit den Führungen der sozialdemokratischen Parteien, denen man vorwarf, „die Verantwortung für diesen Krieg, für seine Ziele und Methoden übernommen zu haben.“ [2]

Der Gegensatz zwischen den Burgfrieden propagierenden Sozialdemokraten und der linken Opposition verschärfte sich im Kriegsverlauf und nahm nach dem Waffenstillstand in einigen Ländern bürgerkriegsähnliche Formen an. Lenin beschrieb die Situation mit drastischen Worten: „In der ganzen Welt haben sich die Sozialisten gespalten. Die einen sind Minister, die anderen sitzen in den Gefängnissen.“ [3] In Deutschland nahm der Bruderkampf noch brutalere Formen an: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und mit ihnen viele andere wurden unter Billigung von Mehrheitssozialdemokraten ermordet.

Die Spaltung lässt sich nicht auf den Gegensatz Sozialdemokraten versus Kommunisten reduzieren

Die Zimmerwalder Konferenz fand zwei Jahre vor der russischen Revolution im Oktober 1917 statt. Lenin war in Zimmerwald dabei, er gehörte dort aber zur Minderheit - der von ihm eingebrachte Resolutionstext fand keine Mehrheit. [4] Die Spaltung der Arbeiterbewegung ging der russischen Revolution voraus, sie lässt sich daher nicht auf den erst später dominierenden Gegensatz Sozialdemokratie versus Kommunismus reduzieren. Auch dies ist eine „künstliche Darstellung“, an deren Verbreitung beide Antagonisten interessiert sind. Es ist vielmehr an der Zeit, diese schematische Darstellung zu überwinden. In der wechselvollen Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gibt es vielmehr zahlreiche Beispiele dafür, wie sich antimilitaristische und antiimperialistische Haltungen immer wieder neu in der Sozialdemokratie herausbilden.

Davon zeugt etwa der Streit in der Weimarer SPD über den Bau des Panzerkreuzers A. Die SPD hatte 1928 ihren Wahlkampf unter die Parole „Für Kinderspeisung – gegen Panzerkreuzerbau!“ gestellt. Nach ihrem Wahlsieg war es dann aber ausgerechnet der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller, der grünes Licht für den Bau gab. [5] Es war vor allem die KPD, die die linken Wähler gegen diesen Verrat mobilisierte.

Aber auch in der SPD wurde diese Entscheidung mit Empörung aufgenommen. Das „Umfallen“ der Partei war Anlass zur Abspaltung eines Großteils ihres linken Flügels. Am 4. Oktober 1931 wurde auf der Reichskonferenz oppositioneller Sozialdemokraten die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) gegründet. [6] Auf dem Präsidiumstransparent war zu lesen: „Karl Liebknecht mahnt, der Feind steht im eigenen Land“. Es war die Parole von 1915, die wieder aktuell geworden war. Vor allem junge Sozialdemokraten schlossen sich der neuen Partei an, unter ihnen Herbert Frahm, der sich später Willy Brandt nannte, dabei war auch Otto Brenner, in der Bundesrepublik lange Vorsitzender der IG Metall.

Der Kotau der Nachkriegs-SPD

Nach der Befreiung folgte die SPD zunächst den in der Bevölkerung vorherrschenden pazifistischen und neutralistischen Stimmungen. Für eine gewisse Zeit schien es so, dass die Sozialdemokratie die Lektionen von 1914 und 1933 verstanden hatte, und dass sie künftig eine konsequente antimilitaristische Politik verfolgen würde.

So verweigerte die SPD lange ihre Zustimmung zu der von der Adenauer-Regierung forcierten Wiederbewaffnung und zur Einbindung der Bundesrepublik in die NATO. 1956 hatte der Münchener Parteitag „die deutsche Sozialdemokratie sogar auf das Ziel festgelegt, die Einführung der Wehrpflicht zu verhindern bzw. die Wehrpflicht wieder zu beseitigen, falls sie (…) gegen ihren Willen eingeführt werden sollte.“ [7] Anders als der DGB hatten sich die Delegierten aber nicht dazu durchringen können, die Partei aufzufordern, die Kräfte aktiv „zu unterstützen, die willens sind, 'mit demokratischen Mitteln die Wiederbewaffnung im gespaltenen Deutschland und die Wehrpflicht wieder rückgängig zu machen.'“ [8] Doch auch der DGB unternahm so gut wie nichts, um den Widerstand gegen Wehrpflicht und NATO zu stärken. Und so kam es wie so oft in der Nachkriegsentwicklung: „SPD und DGB beteiligten sich zwar zeitweilig an derartigen Bewegungen, ließen es aber letztendlich an Entschlossenheit fehlen, wodurch die größte politische Oppositionsbewegung entscheidend an Orientierung und Durchsetzungskraft verlor.“ [9]                 

Es sollte aber noch bis 1960 dauern, bis sich die SPD auch offiziell zu NATO und Wehrpflicht bekannte. Herbert Wehner erklärte am 30. Juni des Jahres in einer Grundsatzrede vor dem Deutschen Bundestag für die SPD: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geht davon aus, dass das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist.“ [10] Wehner antwortete damit auf eine unmittelbar zuvor erhobene Forderung des CSU-Vorsitzenden und Bundesverteidigungsministers Franz-Josef Strauß nach einer gemeinsamen Außenpolitik von CDU/CSU und SPD.

Wehners Erklärung stand in einem klaren Widerspruch zu dem erst ein Jahr zuvor beschlossenen Godesberger Programm, denn dort fand sich kein Bekenntnis zum atlantischen Vertragssystem, die NATO wurde darin noch nicht einmal erwähnt. Gefordert wurde vielmehr: „Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einbeziehung ganz Deutschlands in eine europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung, die im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit von fremden Truppen geräumt wird, und in der Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen weder hergestellt noch gelagert oder verwendet werden dürfen.“ [11]

Antiimperialismus außerhalb und innerhalb der SPD

Nach dem Kotau vor der von Adenauer vorangetriebenen Westbindung der Bundesrepublik entledigte sich die SPD recht bald der innerparteilichen Widersacher ihres Schwenks: Am 6. November 1961 erklärte der SPD-Vorstand die Mitgliedschaft in dieser Partei mit der Zugehörigkeit zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und seiner Fördergesellschaft für unvereinbar. Dies war die Geburtsstunde der Außerparlamentarischen Opposition, da der verstoßene SDS nun zum Motor eines sich außerhalb der SPD organisierenden Protests gegen Militarisierung, gegen Atombewaffnung der Bundeswehr, vor allem aber gegen die Westbindung der Bundesrepublik wurde. In den Fokus nahm die neu entstehende Studentenbewegung auch die rücksichtslosen und grausamen Kriege, die Frankreich in Algerien und die USA in Vietnam führten. Protestiert wurde gegen eine Außenpolitik der Bundesrepublik, die mörderische Regime überall in der Welt unterstützte. Bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen.

Gestärkt wurde die Studentenbewegung durch die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), wodurch die westdeutschen Kommunisten nach 12 Jahren Illegalität wieder in der Öffentlichkeit aktiv werden konnten. Trotz der anfangs starken Stellung der DKP unter Studenten und jungen Intellektuellen blieb die Partei jedoch insgesamt erfolglos. Ihr Einfluss in der Arbeiterklasse blieb schwach, bei Wahlen war sie chancenlos. Mit der Wende 1989/90 wurde diese schwache kommunistische Partei noch weiter geschwächt.

Es sollte nicht lange dauern, bis sich aufgrund der Politisierung vieler Studenten in der Sozialdemokratie wieder antiimperialistische Haltungen zeigten. Zunächst radikalisierte sich der eben erst von der SPD als Ersatz für den verstoßenen SDS gegründete Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB). Es folgten die Jungsozialisten, die 1969 eine Linkswendung vollzogen. Dort bildete sich eine marxistische Strömung heraus, die in den 1980 vorgelegten „Herforder Thesen – zur Arbeit von Marxisten in der SPD“ die Unterordnung der Bundesrepublik unter die Interessen der NATO und damit der USA scharf kritisierte. [12]

Linke Sozialdemokraten, Kommunisten, unabhängige Linke, Christen und Grüne engagierten sich in den 80er-Jahren gemeinsam im Kampf gegen die sogenannte Nachrüstung und für eine Fortsetzung der Entspannungspolitik. Höhepunkt der Friedensbewegung war die Kundgebung von mehr als einer halben Million Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss am 10. Juni 1982 auf den Bonner Rheinwiesen.

Der Streit um Westbindung und NATO war spätestens mit den Protesten gegen die Nachrüstung in die SPD zurückgekehrt, und er sollte auch die Debatte um das neue Grundsatzprogramm bestimmen, mit dem das Godesberger Programm abgelöst werden sollte. In diese Auseinandersetzung griff auch Olaf Scholz ein. In einem Artikel setzte er sich 1987 als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten mit den außen- und sicherheitspolitischen Passagen des Entwurfs auseinander. Dabei griff er das „NATO-Bekenntnis“ an. Bemerkenswert ist seine damalige Formulierung, wonach „erst eine sozialistische Welt dauerhaft den Frieden garantieren könne“. Und weiter: „Überhaupt entpuppt sich die SPD gerade in dem Kapitel ῾Die Politik des Friedens῾ als eine Partei des Status quo. Sie behauptet die Notwendigkeit der Mitgliedschaft der BRD in der NATO. Obwohl die Forderung nach einem isolierten Austritt der Bundesrepublik aus der NATO falsch ist und die Überwindung der Militärblöcke in Europa der richtige Weg ist, mutet das NATO-Bekenntnis in einem sozialdemokratischen Grundsatzprogramm doch merkwürdig an. (…).“ [13]

Heute hingegen verurteilt jener Olaf Scholz die ablehnende Haltung der Partei DIE LINKE gegenüber der NATO und verlangt von ihr ultimativ ein Bekenntnis zu diesem Bündnis und zur Westbindung der Bundesrepublik. Davon wollte er die Aufnahme von Gesprächen über eine Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei nach der Bundestagswahl im September 2021 abhängig machen. [14] Von der Partei DIE LINKE forderte Olaf Scholz damit genau das ein, was 1960 der CSU-Vorsitzende und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß seinerzeit von der SPD verlangt hatte.  

SPD und Grüne für NATO-Militäreinsätze

Mit dem Wegfall des Systemgegensatzes 1989/91 erhielt der US-geführte Imperialismus freie Hand, um seine Ziele nun auch wieder mit militärischen Mitteln ungehindert durchzusetzen zu können. Die Sowjetunion war noch nicht aufgelöst, da begann 1990 bereits der erste Irakkrieg, die „Operation Wüstensturm“. Als Oppositionspartei kritisierte die SPD dieses imperialistische Abenteuer.

Die Ablehnung westlicher Aggressionen änderte sich aber nach Bildung der Rot-Grünen Bundesregierung im Herbst 1998. Noch bevor sie überhaupt ins Amt gekommen war, akzeptierte sie einen noch von ihrer CDU/CSU – FDP - Vorgängerregierung formulierten Vorratsbeschluss, mit dem sie sich verpflichtete, an einem militärischen Angriff der NATO auf Serbien teilzunehmen. Und so kam es denn auch wenige Monate später. Mit Rudolf Scharping war es ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister, der sich im Kosovokrieg als Scharfmacher profilierte.

In der SPD und bei den Grünen führte dieser Schwenk zu erbitterten innerparteilichen Auseinandersetzungen. Nur mit Mühe konnte sich Bundesaußenminister Joseph Fischer auf dem Bielefelder Parteitag mit seiner den Krieg verteidigenden Position durchsetzen. In beiden Parteien kam es zu Austrittswellen. Mit der Zustimmung der SPD zur NATO-Intervention in Jugoslawien endete zugleich die Zeit einer Öffnung der Partei für antiimperialistische und NATO-kritische Positionen, die nach dem Ende der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt 1982 begonnen hatte.

Die von SPD und Grünen geführte Bundesregierung unterstützte auch von Beginn an den Krieg der USA gegen Afghanistan. Zur Begründung der Teilnahme der Bundeswehr erklärte der Sozialdemokrat Peter Struck als Verteidigungsminister im März 2004: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.“ [15] Heute, nach dem Zusammenbruch der vom Westen ausgehaltenen afghanischen Regierung im August 2021, möchte sich kein prominenter Sozialdemokrat mehr an diese Aussage erinnern lassen.

Selbst als links geltende Sozialdemokraten übernahmen die Parolen des Menschenrechtsimperialismus des Westens. So verurteilte die als „rote Heidi“ bekannt gewordene SPD-Politikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul die Stimmenthaltung des FDP-Bundesaußenministers Guido Westerwelle im März 2011 bei der Entscheidung des UN-Sicherheitsrats über die von den USA, Großbritannien und Frankreich verlangte Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen mit der die Luftwaffe Gaddafis ausgeschaltet werden sollte. In einem Interview erklärte sie: „Was Libyen anbelangt deuteten alle Zeichen darauf hin, dass Gaddafi Massaker gegenüber der eigenen Bevölkerung begehen würde. Die Rachedrohungen von Gaddafi gegen die Bewohner Bengasis sind mir noch in grausiger Erinnerung. Daher finde ich die Erklärung der Bundesregierung bei ihrer Stimmenthaltung nicht in eine militärische Auseinandersetzung hineingezogen werden zu wollen, ungeheuerlich.“ [16]

Nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien teilten die von der SPD gestellten Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas vorbehaltlos die Haltung des Westens, die auf den Sturz der rechtmäßigen Regierung in Damaskus durch Islamisten setzte und dafür die weitgehende Zerstörung des Landes, den Tod von Hunderttausenden sowie die Vertreibung von Millionen in Kauf nahm.

Doch wer zählt schon die Opfer all dieser Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen oder in Syrien? Es ist heute nicht viel anders als vor hundert Jahren. Losurdo zitiert dazu Lenin: „Für die Großmächte sind ihre Kolonialexpeditionen keine Kriege. Es handelt sich um Konflikte, bei denen 'wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten'. Und scharf ironisch fährt Lenin fort: 'Sind das denn Kriege? Das sind doch eigentlich gar keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen'. Den Opfern werden noch nicht einmal die militärischen Ehren erwiesen. Die Kolonialkriege werden nicht als solche betrachtet, weil es Barbaren sind, die sie erleiden, die 'nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?)“ [17]

Inzwischen hat der SPD-Außenminister Heiko Maas mit seinem aggressiven Kurs gegenüber Russland und China sogar die sozialdemokratische Tradition der Entspannungspolitik aufgegeben. Vorbehaltlos unterstützt er die aggressive Politik der USA, der EU und Großbritanniens gegenüber diesen beiden Mächten. Man spricht inzwischen von einem wiederauflebenden kalten Krieg des Westens gegenüber Russland und China. Nennenswerten Widerstand in der SPD gibt es dagegen nicht.

Der Grund für die Spaltung ist weiterhin gegeben

Es sind demnach die alten Gegensätze in der Frage der Westbindung der Bundesrepublik, der Integration Deutschlands in die NATO und hinsichtlich des Verhältnisses gegenüber dem globalen Süden, die weiterhin die Bruchlinie zwischen Sozialdemokratie und ihren antiimperialistischen Kritikern bestimmen. Das Zerwürfnis von 1915 ist nicht überwunden. Und solange die SPD ihren proimperialistischen Kurs nicht aufgibt, wird es andauern. Und hier sei es noch einmal betont: Es ist nicht die Fragestellung Reform oder Revolution, die die Lager trennt, denn spätestens nach der Auflösung des Systems des europäischen Sozialismus 1989/91 gilt, dass es zu einer evolutionären Überwindung des Kapitalismus zumindest in Europa keine Alternative gibt.    

Seit 1990 ist die PDS bzw. ab 2007 die Partei DIE LINKE die Organisation, auf die die Anhänger der Friedensbewegung und Antiimperialisten ihre Hoffnung setzen. Die Partei selbst sieht sich dabei nicht in einer Kontinuität mit der kommunistischen Bewegung. In ihrem Grundsatzprogramm heißt es zu ihrem Selbstverständnis: „DIE LINKE knüpft an linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung sowie aus feministischen und anderen emanzipatorischen Bewegungen an.“ [18] Man kann die LINKE daher als eine pluralistische linkssozialistische Partei bezeichnen.

In ihrem Grundsatzprogramm von 2011 formuliert die FIE LINKE, dass für sie Krieg „kein Mittel der Politik“ sei. „Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat. Unabhängig von einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO wird DIE LINKE in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird. Wir fordern ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr.“ [19] Dies sind Formulierungen, die ganz ähnlich denen des Godesberger Programms der SPD von 1959 sind.

In den dreißig Jahren ihres Wirkens haben sowohl die PDS als auch die Partei DIE LINKE diesen Worten Taten folgen lassen. Ihre Bundestagsabgeordneten haben stets den Kriegen der NATO in Jugoslawien, Afghanistan und anderswo eine Absage erteilt. Sie haben die Politik des Westens gegenüber Libyen und Syrien verurteilt, und sie haben gegen die vergifteten Griechenlandhilfen gestimmt, die das Land seiner Souveränität beraubte.

Bleibt die LINKE eine antiimperialistische Kraft?

Inzwischen ist es aber zweifelhaft geworden, ob die bisherige ablehnende Haltung der Linkspartei gegenüber NATO und Westbindung noch gilt. Vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 veröffentlichte die Partei unter der Überschrift „10 Gründe die LINKE zu wählen“ ein Kurzwahlprogramm in dem unter Punkt 7 die Außen- und Sicherheitspolitik angesprochen wird. [20]

Auffällig ist, dass unter der Überschrift „Kein Geschäft mit dem Tod: Waffenexporte verbieten“ dort als konkrete Forderungen lediglich genannt werden: „Die Linke tritt für den Frieden ein. Wir holen die Bundeswehr aus Auslandseinsätzen zurück. Waffen- und Rüstungsexporte werden wir verbieten.“ Keine Rede ist hingegen mehr von den Forderungen des Grundsatzprogramms nach einem Austritt „aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses (…)“, und dass „die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird.“

Das Kurzwahlprogramm hatte ganz offensichtlich die Funktion, SPD und Grünen als möglichen Koalitionspartnern noch vor der Wahl zu signalisieren, dass ein Bündnis mit der Linken an der Frage der NATO nicht scheitern werde. Die Partei hatte sich damit der Forderung des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gebeugt, ihre Zustimmung zur NATO bereits vorab zu erklären.

Allein das für die LINKE desaströse Wahlergebnis verhinderte, dass es zur Aufnahme von Koalitionsgesprächen und damit zur Kapitulation der Linkspartei kam. Der Kotau blieb aus – vorerst. Sollte die Partei aber eines Tages ihre antiimperialistische Haltung aufgeben, so verlöre sie ihre Existenzberechtigung und könnte Teil der Sozialdemokratie werden.

Dies würde aber nicht zugleich das Ende der Spaltung der Arbeiterbewegung bedeuten. Die antiimperialistischen Kräfte würden sich dann – ganz ähnlich wie nach dem Schwenk der Sozialdemokratie 1960 - außerparlamentarisch organisieren, um von dort den Kampf fortzusetzen.

    

[1] Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013, S. 25 f.

[2] Zimmerwalder Manifest, dokumentiert in: Rote Blätter 1, Linke und Friedensfrage, Berlin 2016, S. 116 ff.

[3] W.I. Lenin, Krieg und Revolution, Lenin-Werke Band 24, Berlin 1959, S. 418

[4] Im Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken mit Lenin an der Spitze wurde die Umwandlung des
  imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gefordert, wobei er sich auf das Grußwort von Karl Liebknecht
  berief – „Burgkrieg, nicht Burgfriede ist die Lösung“. Dem wollte die Mehrheit der anwesenden Delegierten
  aber nicht folgen. Vgl. Rote Blätter 1, a.a.O., S. 120 f.   

[5] Der Panzerkreuzer A spielte später unter dem Namen Deutschland bzw. Lützow eine wichtige Rolle im
  faschistischen Angriffskrieg.

[6] Vgl. zur Geschichte der SAP Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) - Ein
  Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Erlangen, 1971

[7] Wolfgang Abendroth, Aufhebung der Wiederbewaffnung? Wie entscheidet der DGB? in: Wolfgang Abendroth, Gesammelte Werke, Band 3, Hannover  2013, S. 133

[8] Ebenda

[9] Hans-Jürgen Axt, Bundesdeutsche Außenpolitik zwischen transatlantischer und westeuropäischer
Orientierung, in: Ulrich Albrecht, Frank Deppe, Jörg Huffschmid, Geschichte der Bundesrepublik – Beiträge,
Köln 1980, S. 274

[10] Herbert Wehner, Plädoyer für eine gemeinsame Politik, Rede vor dem Deutschen Bundestag nach dem
Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz, 30. Juni 1960, in: Herbert Wehner, Wandel und Bewährung,
Ausgewählte Reden und Schriften 1930-1980, Berlin 1981, S. 240

[11] Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg 1959, in:   Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Berlin/Bonn 1984, S. 368

[12] Herforder Thesen – Zur Arbeit von Marxisten in der SPD. SPW-Sonderheft 2, Berlin 1980, S. 143 ff.

[13] Olaf Scholz, Politik des Friedens: Entspannung und Abrüstung im Programm, in: Detlev Albers/Kurt Neumann (Hrsg.), Über Irsee hinaus! Zur Kritik am  Programmentwurf der SPD, spw-Verlag, Berlin 1987, S.32 f.
Vgl. auch Andreas Wehr, Der Spezialdemokrat – über die politische Wandlungsfähigkeit des Olaf Scholz,

[14] Starke NATO ist für Olaf Scholz Koalitionsvoraussetzung, in: Die Welt vom 06.09.2021

[15] Afghanistan: über 20 Jahre Krieg, Leid, Chaos und kein Ende

[16] Genocide Alert, Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul am 20.03.2012

[17] Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, a. a. O., S. 25

[18] Programm der Partei DIE LINKE, Berlin 2011, S. 9

[19] Programm der Partei DIE LINKE, a. a. O., S. 69

[20] 10 Gründe die LINKE zu wählen

Der Artikel erschien am 06.11.2021 auf Telepolis

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