Deutschlands Corona-Politik: „Nicht gut, nur weniger schlecht als in anderen Ländern."

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Interview von Andreas Wehr mit Sputnik Deutschland, 16. April 2020

Deutschlands Corona-Politik: „Nicht gut, nur weniger schlecht als in anderen Ländern“

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Mit der Forderung nach der Aufhebung des Versammlungsverbots tut sich die Linkspartei derzeit keinen Gefallen. Punkten kann vor allem die Union, doch nicht etwa deswegen, weil sie gute Politik in Sachen Pandemie-Bekämpfung macht, sondern nur, weil sie weniger schlecht abschneidet als andere westliche Regierungen.

Die Fragen stellte Ilona Pfeffer

Die Corona-Pandemie stellt Politik und Gesellschaft vor Herausforderungen in bisher ungekannter Form. Von der Regierung wird erwartet, dass sie „richtig“ reagiert, zugleich muss die Bevölkerung erhebliche Einschränkungen von Bürgerrechten in Kauf nehmen, und noch kann niemand sagen, wie lange das so bleibt und ob nicht vielleicht noch härtere Einschnitte kommen werden.

Über die ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, das Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich und die Position der Linkspartei sprach Sputniknews Deutschland in einem schriftlichen Interview mit dem Buchautor und EU-Experten Andreas Wehr.

Herr Wehr, trotz dieser Einschränkungen, die nicht von allen gutgeheißen werden, scheint die Bundesregierung insgesamt ganz gut abzuschneiden, allen voran die Union, die als einzige in den Umfragewerten zulegen kann und sich derzeit bei 36 Prozent befindet. Ist der Umgang der Bundesregierung mit der Pandemie aus Ihrer Sicht souverän, und die Zustimmungswerte begründet? Wie kann man ihre Handlungsweise im internationalen Vergleich einordnen?

Die guten Noten, die man der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie, sowohl im Ausland als auch in Deutschland gibt, sind nur vor dem Hintergrund der katastrophalen Verhältnisse in anderen Ländern, etwa in Italien, Spanien, Frankreich, vor allem aber in den USA und Großbritannien zu verstehen. In Wahrheit ist die deutsche Politik alles anderes als gut, sie ist nur nicht so schlecht wie eben in diesen Ländern. Vergleicht man sie aber mit der Politik ostasiatischer Länder wie China, Singapur, Taiwan, Hongkong, Vietnam oder Südkorea erkennt man leicht, dass auch die Politik der Bundesregierung den Herausforderungen nicht im Entferntesten gerecht wurde und wird. Ich will hier nur zwei Zahlen vergleichen: In China, dem Ursprungsland der Pandemie, starben nach offiziellen Angaben bisher 3345 Menschen. In Deutschland sind mit Stand vom 15. April bereits 3254 Menschen an Covid-19 gestorben. Also fast genauso viel. Doch Deutschland ist ein Land mit 83 Millionen Einwohnern, China hat fast 1,4 Milliarden. Und hat es dort seit Wochen keinen Todesfall mehr gegeben, so wird es in Deutschland leider noch sehr viele Tote mehr geben. Da tröstet es nicht, dass es in anderen Ländern noch düsterer aussieht. Ganz ähnlich sieht es bei den Infektionszahlen aus. Gelten in Deutschland tägliche Zuwächse von 2500 schon als Erfolg, man spricht dann von einem Abflachen der Kurve, so ist es völlig anders in China und in den anderen ostasiatischen Ländern. Da schrillen schon bei einem Dutzend neuer Fälle die Alarmglocken.

Warum ist das so? Was ist konkret schiefgelaufen?

Die Bundesregierung hat – wie die Regierungen der anderen westlichen Länder auch – die Gefährlichkeit des Virus lange Zeit vollkommen unterschätzt und verharmlost. Die ostasiatischen Länder hatten bereits Anfang, spätestens Mitte Januar 2020 Einreisesperren gegenüber Menschen aus China verhängt und begannen zugleich damit, jede einzelne Infektion im Land zu verfolgen und die Betroffenen zu isolieren. Zwar war man anfangs auch in Deutschland noch darum bemüht, vereinzelten Infektionsketten nachzugehen – etwa in München Anfang Februar beim Autozulieferer Webasto, wo eine aus China gekommene Mitarbeiterin mehrere Kollegen angesteckt hatte -, zugleich ließ man aber die Grenzen offen. Flugreisende aus den damaligen Hotspots der Epidemie, aus China, Südkorea und dem Iran, konnten ohne jede gesundheitliche Kontrolle einreisen. Sie mussten lediglich sogenannte Aussteigekarten ausfüllen, aber dann auch nur, wenn der Verdacht auf einer übertragbaren Krankheit an Bord bestand. Auf den Karten sollte die Wohnadresse des Passagiers angegeben werden. Mit diesen Angaben wollte man die Nachverfolgbarkeit einer infizierten Person möglich machen. Tatsächlich stapeln sich diese Karten – wie vom Tagesspiegel Mitte März recherchiert wurde – ungeordnet in großen Kartons in irgendwelchen Abstellräumen der Flughäfen. Erst am 17. März 2020 einigte man sich in der EU auf einen generellen Einreisestopp für alle Nicht-EU Bürger. Da war es aber zu spät. Das Virus war längst überall angekommen. Es hatte dreieinhalb Monate Zeit gehabt, sich in Europa zu verbreiten.

Wie kann man sich dieses Versagen erklären?

In Deutschland und in der EU glaubte man offensichtlich, dass sich das Virus lediglich in der Region ausbreiten werde, wo es entstanden war, also in China und vielleicht noch in einigen anderen Ländern Ostasiens. So war es ja tatsächlich bei der SARS-Pandemie 2002/03 gewesen. Doch das war ein gewagtes Vabanque-Spiel. Und das Virus spielte da nicht mit. Zum anderen setzte man alles daran, so lange es noch irgendwie ging, den freien Reise- und Warenverkehr aufrechtzuerhalten. Die nahezu ungehinderte grenzüberschreitende Mobilität ist nun einmal das Mantra des Neoliberalismus schlechthin. So hat die EU bekanntlich den Anspruch, ihren Bürgern einen unbegrenzten Binnenmarkt mit völliger Personenfreizügigkeit zu bieten. Diese Politik wollte man lange Zeit um nichts in der Welt aufgeben. Lieber nahm man die Durchseuchung des Großteils der Bevölkerung in Kauf. Noch am 12. März 2020 erklärte Angela Merkel, dass sich 60 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung in nächster Zeit infizieren werden. Erst als Virologen und Epidemiologen Alarm schlugen und erklärten, dass man damit bis zu Hunderttausende Tote in Kauf nähme, war man zu einer Korrektur bereit. Jetzt wurden plötzlich Versammlungen jeglicher Art untersagt, Bildungseinrichtungen geschlossen und Kontakteinschränkungen eingeführt, die wir heute noch haben. Boris Johnson und Donald Trump hielten noch einige Tage länger an der neoliberalen Politik der absoluten freien Mobilität fest, ehe auch sie unter dem Druck der besorgten Bevölkerung beidrehen mussten. Wenn man aber genauer hinsieht, ist diese Politik der bewussten Durchseuchung der Bevölkerung in Deutschland bis heute nicht aufgegeben worden. Die ergriffenen Maßnahmen dienen ja ganz offiziell nur dazu, die Ansteckungszahlen niedrig zu halten, um das Gesundheitswesen nicht zu überfordern. Die Infektionen und damit auch das Sterben können daher – wenn auch auf niedrigem Niveau - ruhig weitergehen. An einen Sieg über das Virus, wie er in China errungen wurde, denkt hier niemand. Die Frage drängt sich daher auf: Wer ist der Barbar? China oder der Westen? Papst Franziskus hat den Kapitalismus mal eine Wirtschaft genannt, die tötet. Wie Recht er damit hat, kann man heute sehen.

Obwohl zu den Top-Maßnahmen der Eindämmung neben Mundschutz und Händewaschen vor allem auch die Kontaktbeschränkungen gehören und man am Beispiel China sehen kann, dass das offensichtlich Wirkung zeigt, regt sich von verschiedenen Seiten gerade gegen das Versammlungsverbot Widerstand. Die Bandbreite ist sehr groß – von eigentlich völlig unpolitischen Menschen über verschiedene „alternative Medien“, darunter auch „verschwörungstheoretische“, bis hin zu der Linkspartei, die die Aufhebung des Versammlungsverbots fordert, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene. Begründet wird es damit, dass die Corona-Pandemie nicht ausgenutzt werden dürfe, um unliebsamen Protest zu verhindern. Wie bewerten Sie diese Position? Inwiefern sind Kritik und Sorge bezüglich der Einschränkungen gerade berechtigt (allgemein)? Und inwiefern ist es klug und richtig von der LINKE, gerade jetzt die Aufhebung des Versammlungsverbots zu fordern?

Man muss unbedingt genau hinsehen, was da so von heute auf morgen alles unter der Überschrift „Kampf dem Coronavirus“ an Gesetzen und Verordnungen beschlossen, ja manchmal sogar durchgepeitscht wird. Da wollte etwa die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen mal so eben die Dienstpflicht für das medizinische Personal einführen und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sprach sogar von der Ersetzung des Bundestages durch ein Notparlament. Solchen Vorhaben muss unbedingt die rote Kartei gezeigt werden! Etwas ganz anderes ist aber das angeordnete Versammlungsverbot. Demonstrationen und Versammlungen untersagt man gegenwärtig deshalb, weil es dabei notwendigerweise zu unzähligen engen Kontakten zwischen Menschen kommt. Und sie begünstigen nun einmal Ansteckungen extrem. Diese Gefahr besteht ja ebenso unter Zuschauern bei Sportveranstaltungen, Konzerten, Theateraufführungen, bei den Besuchern von Messen, Gottesdiensten usw. Auch die hat man ja alle deshalb untersagt. Das sind Einschränkungen, die ausgesprochen sinnvoll sind und die das Bundesinfektionsschutzgesetz im vorliegenden Fall einer Pandemie ausdrücklich auch vorsieht. Wer diese Zusammenhänge nicht versteht oder verstehen will, der muss sich eben von der Polizei belehren lassen. Und das zu Recht, denn er gefährdet die Gesundheit und das Leben unzähliger Menschen! Die Partei DIE LINKE sollte sich daher nicht mit solchen Anarcho-Libertären gemein machen, die Woche um Woche auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz die Staatsgewalt mit sogenannten „Hygiene-Demonstrationen“ herausfordern wollen und dabei „Toilettenpapier für alle!“ rufen. Solcher Ulk ist nicht lustig, sondern hochgefährlich! Und er ist auch alles andere als links, denn links ist zunächst und vor allem einmal, wer das Recht auf Leben verteidigt.

Eine Reaktion der LINKE auf die Herausforderungen der Pandemie, die ihre Kernthemen stärker in den Vordergrund rücken würde, gab und gibt es durchaus auch. Etwa Kritik am kaputtgesparten Gesundheitssystem und Forderungen nach mehr Lohn für Pflegekräfte. Doch scheint sie damit nicht so richtig „punkten“ zu können. Wie sehen Sie das?

Das sind alles richtige Forderungen, die gegenwärtig auch von den Gewerkschaften erhoben werden. Aber als eine Partei, die ja antikapitalistisch sein will, sollte DIE LINKE sehr viel weiter gehen. Vor Jahren hat etwa Gregor Gysi die Vergesellschaftung der Pharmaindustrie verlangt. Damals hörte kaum jemand hin. Jetzt ist diese Forderung so aktuell wie nie. Und sie hat sogar die Chance, in der Bevölkerung Gehör zu finden. Die Parteivorsitzende Katja Kipping hat nun den Begriff „Infrastruktursozialismus“ als Forderung ins Spiel gebracht. Abgesehen davon, dass dies ein schreckliches Wortungetüm ist, wird darunter leider alles Mögliche verstanden. Genannt werden so unterschiedliche Bereiche wie Gesundheit, Mobilität, Bildung, Pflege und Wohnen. Auch ein flächendeckender gebührenfreier Bus- und Bahnverkehr und „Breitband für alle“ sollen dazu gehören. Das ist aber alles viel zu vage und klingt nach einem Wunschkatalog. Wie wäre es aber – etwas bescheidener – mit Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Gesundheitssystems: Schluss mit privaten Krankenhäusern und privaten Pflegeheimen! Schluss mit dem Zweiklassen-System! Damit könnte eine kämpferische Linkspartei jetzt punkten.

Wie schneiden aus Ihrer Sicht die anderen Parteien ab? Wer kann aus der Krise „Profit ziehen“?

Es ist zu befürchten, dass jetzt ausgerechnet jene von der Krise profitieren, die – wie beschrieben – über Monate hinweg sträflich versagt haben und damit für die heutige katastrophale Situation verantwortlich sind. Dies sind die Parteien der Bundesregierung und hier in erster Linie CDU und CSU. Ihnen wird jetzt vertraut, da sie gegenwärtig einiges richtig machen, etwa rigide Maßnahmen zumindest zur Eindämmung der Pandemie ergreifen. Die klare Mehrheit der Menschen will jetzt in der Not einen starken und handlungsfähigen Staat sehen. Die Partei DIE LINKE hat diesen Menschen aber wenig anzubieten. Sie hat sich in weiten Teilen in eine Bürgerrechtspartei gewandelt, die den Grünen nacheifert. Sie ist verfangen in ihrer Ideologie von „No Border – No Nation“. Damit ist aber jetzt und wahrscheinlich für lange Zeit – im wahrsten Sinne des Wortes – kein Staat zu machen.

 

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